Vätternrunde 2014
Vätternrundan, die dritte
Da es uns im Gegensatz zum Vorjahr diesmal gelungen war, eine von über 20000 Nummerlappar (schwedisch für Startnummern) für unser Vorhaben „family and friends“ zu ergattern, fieberten wir unserm Start bei der 49. Vätternrunde entgegen. Nachdem der friend kurzfristig hatte absagen müssen, blieb die vierköpfige family mit Sohn Martin, Bruder Wolfgang und Neffen Lukas übrig. Lukas sollte uns hier etwas ziehen, wenn wir Probleme bekommen sollten, doch es kam alles ganz anders – leider.
Die Vätternrunde ist gemessen an der Teilnehmerzahl die größte Radsportveranstaltung der Welt für Amateur-Radsportler und einer der schwedischen Klassiker, wozu auch der Wasalauf und ein Langstreckenschwimmen gehören. Auf einem exakt 300 km langen Kurs wird dabei der zweitgrößte See Schwedens und sechstgrößte See Europas – der Vätternsee – im Uhrzeigersinn umrundet. Die Karte zeigt die Tour von 2007, die Kilometrierung hat sich nur geringfügig verändert.
Der ganze Mittwoch ging für die Anreise drauf. 6 Stunden mit der Fähre über die Ostsee und anschließend noch 400 km nach Norden im gemütlichen schwedischen Reisetempo von 110 km/h fordern viel Zeit. Kurz nach Mitternacht kamen wir im Dunkeln im Startort Motala an, einer sonst verschlafenen Kleinstadt. Wir steuerten den Zeltplatz an, der noch wie ausgestorben war. Diesmal waren wir wesentlich zeitiger da als bei unseren vorangegangenen zwei Teilnahmen. So fanden wir einen wunderschönen Platz direkt am See. Ein Bootssteg befand sich quasi vor dem Zelteingang. Wenn ich hier von Zeltplatz rede, dann stimmt das nicht ganz. Zur Vätternrunde wird rings um Motala jede größere Wiese in einen Zeltplatz umgewandelt. Sanitäre Anlagen gibt es nur eingeschränkt (Dixies), aber wozu auch? Wir hatten den See vor der Haustür.
Der Donnerstag gehörte der Abholung der Startunterlagen, dem Besuch der Fahrradmesse, dem üblichen Schrauben am eigenen Rad und natürlich der Entspannung am und im Wasser des riesigen Sees. Außerdem konnte man sich in Ruhe mit den Zeltplatznachbarn aus Chemnitz und denen von gegenüber aus der Dübener Heide unterhalten. Die Chemnitzer wollten den Kurs mit ganz normalen Fahrrädern bewältigen – Respekt. Das Wetter war perfekt, Sonne satt und nicht zu warm. Die Prognose war nicht so günstig, aber auch nicht schlecht. Zumindest sollte es weitgehend trocken bleiben, nicht so wie 2012 als 4000 Teilnehmer wegen schwerer Gewitter aufgeben mussten.
Unsere Startzeit war auf Freitag 22:38 Uhr festgelegt, noch viel Zeit bis dahin. Wir versuchten es mit etwas Schlafen, denn die kommende Nacht würden wir auf dem harten Sattel unserer Räder verbringen. Eine Besonderheit war unser Starttermin diesmal: Erstens war Vollmond und zweitens war Freitag der dreizehnte. Ich bin nicht abergläubisch, aber auf abergläubische Gedanken konnte man schon kommen. Wir bereiteten uns gerade auf die Abfahrt vom Zeltplatz zum Start vor, als plötzlich Lukas wie aus dem Nichts aber wirklich alles erbrechen musste, was er den Tag über zu sich genommen hatte. Damit waren unsere Pläne über den Haufen geworfen. Überhaupt schien eine Teilnahme unter diesen Bedingungen für ihn nicht angeraten. Wolfgang war völlig konsterniert und meinte resigniert: „Fahren wir eben zu dritt“. Lukas wollte es trotzdem probieren. Also zum Start. In Mittelschweden ist es im Juni bis 23 Uhr hell. Die Nacht dauert etwa 3 Stunden, weshalb Licht an den Rädern vorgeschrieben ist. Pünktlich 22:38 Uhr ging es auf die Strecke. Der Start bei der Vätternrunde ist so organisiert, dass ab 19:30 Uhr alle zwei Minuten je 60 Radler auf die Strecke gehen, was sich in skandinavischer Gelassenheit die ganze Nacht hindurch bis Samstag 6:30 Uhr hinzieht. So wird jegliche Anfangshektik vermieden, der Wettkampfcharakter herausgenommen und der Spaßfaktor erhöht. Am Ende weiß selbst der Schnellste nicht, dass er gewonnen hat, denn es gibt auch keine Ergebnisliste. Um 9 Uhr schließlich starten die sub9-Fahrer, die den See in weniger als 9 Stunden umrunden.
Jede 60er-Gruppe wird auf den ersten 2 km durch Motala bis zum Ortsausgang von einem vorausfahrenden Motorrad gebremst, um Stürze in der Hitze des Gefechts zu vermeiden. Danach eröffnen manche das Feuer und stürzen mit bis zu 40 km/h los. Wir hatten uns auf ruhiges Fahren geeinigt, was auch sehr gut gelang, denn der Nordwestwind schob uns die ersten 100 km nach Süden bis Jönköping. Es war trocken und unser Tempo pendelte zwischen 28 und 35 km/h. Lukas fiel natürlich als Frontfahrer aus, aber bei Rückenwind spielte das noch keine Rolle. Unterwegs kamen immer wieder Gruppen (meine Bezeichnung: Expresszüge) vorbei, an die man sich im Windschatten hätte anhängen können. Manche waren uns aber auch dafür zu schnell. Nach kurzer Rast am ersten Depot bei km 40 beschlossen wir, uns zu trennen, denn es war zu dem Zeitpunkt ungewiss, ob Lukas durchhalten würde. Er konnte nichts essen und hatte noch 260 km vor der Brust. Wir hingegen labten uns an Honigbrötchen, sauren Gurken und Blaubeersuppe. Das ist der Stoff aus dem die Helden der Vätternrunde gemacht werden. An den neun Depots habe ich etwa 20 solcher (Gummi-)Brötchen zu mir genommen. Aus der email des Veranstalters eine Woche vor dem Start: „We have refueled (Wir haben aufgetankt): 170.000 Brötchen, 15.000 Liter Blaubeersuppe, 3 Tonnen Gurken, 10,8 Tonnen Bananen, 30.000 Liter energy drink usw.“
Nun waren wir also nur noch zu zweit. Mit Martin suchte ich mir immer wieder eine Gruppe, mit der wir mitfuhren. Es war mittlerweile dunkel, vor uns sahen wir hunderte roter Rücklichter durch die Nacht tanzen. Auf der Straße lagen immer wieder – noch leuchtende – Fahrradlampen, die andere Radler verloren hatten. Es wäre ein einträgliches Geschäft, diese Lampen einzusammeln und auf ebay zu verkaufen, aber obwohl kein Wettkampf, bei Tempo 30 bleibt man einfach nicht stehen um Lampen einzusammeln.
Die rasende Schussfahrt nach Jönköping mit Maximalgeschwindigkeit von 58 km/h setzte Endorphine frei. Mir war nur etwas Bange, was die Quasi-Rückfahrt am anderen Ufer des Vätternsees gegen den Wind bringen würde. Doch erstmal wurden am dritten Depot in einer großen Autowerkstatt in Jönköping wieder Brötchen verzehrt. Hier gab es auch Kartoffelbrei mit Köttbullar (Buletten) und andere „Delikatessen“. Auch ein neues Fahrrad hätte man sich zusammenschrauben lassen können. Unsere Räder rollten zum Glück super, sodass wir den nächsten Abschnitt in Angriff nehmen konnten. Und wir hatten großes Glück. Der Wind wehte nicht so heftig wie befürchtet, und wir fanden eine Gruppe, in der wir, ohne Führungsarbeit leisten zu müssen, herrlich mitrollen konnten. Das waren so um die 30 Fahrer, die sich zufällig gefunden hatten. Verschiedene Nationen waren vertreten, Schweden, Holländer, Norweger, Deutsche rollten einträchtig miteinander. So wünschte man sich die ganze Welt. Unterwegs überholten wir einen der Veteranen, die alle bisherigen Vätternrunden mitgefahren sind, erkennbar an seiner blauen Startnummer und dem Fahrrad mit Körbchen vorn, Kofferradio darin und schwedischer Fahne am Gepäckträger. Das sind die wahren Helden der Landstraße.
Leider gab es hin und wieder auch schwere Stürze. Das Gruppenfahren erfordert höchste Konzentration, und die ist nach über 100 km noch dazu im Dunkeln bei einigen nicht mehr gegeben. Aber unser Zug hatte sich richtig gut zusammengefunden. Schade nur, dass immer am nächsten Depot solche Züge auseinander fallen, weil da jeder seinen Weg geht. Zumindest waren wir jetzt schnell bis km 133 nach Fagerhult gekommen und ließen uns Zeit, um zu essen und zu trinken. Nach einer Viertelstunde – wir wollten gerade weiter – kamen Wolfgang und Lukas. Toll, er schien doch durchzukommen.
Da es nun empfindlich kühl wurde, fuhr ich mit Martin trotzdem allein weiter, und wieder fanden wir einen Expresszug, der noch zügiger und zahlreicher als der vorangegangene war. Wir konnten über 30 km mit der Truppe mitrollen, ohne einmal Führungsarbeit übernehmen zu müssen. Auch ein paar Frauen waren hier mit dabei. Klar wo ich meine Position suchte;-) Ruckzuck waren wir in der Kleinstadt Hjo bei 171 km, wo es nochmal Verpflegung für Gourmets gab: Lasagne. Ich verzichtete darauf, aber Martin wollte es unbedingt, hatte eine kleine Hungerattacke. Also Schlange stehen, hinsetzen und genießen. Ich genoss den feuerroten Himmel nach dem Sonnenaufgang und die einmalige Atmosphäre direkt am Seeufer. Es war 5:30 Uhr Samstagmorgen. Müdigkeit? Keine.
Nach einer gefühlten halben Stunde ging es weiter. Es fanden sich zwar immer wieder kleinere Grüppchen, aber solche Züge wie vorher fanden wir auf der ganzen Tour nicht mehr. Es ging dennoch zügig voran über Karlsborg, wo bei km 204 im Schatten der Festungsanlage ein Depot auf uns wartete und Boviken bei km 225 in idyllischer Umgebung oberhalb eines Waldsees. Mit Sicherheit das schönste Depot, Schweden aus dem Bilderbuch bei strahlendem Sonnenschein. Und immer noch ging es uns gut.
Danach wurde es richtig hart. Das Wetter hielt sich an die Prognose. Es hatte für die Morgenstunden eine Sturmwarnung gegeben. Mit Tempo 15 kämpften wir allein gegen diese Brise an, da fühlt man sich auf dem Rennrad einsam und verloren. Tief über den Lenker gebeugt schaute ich immer wieder nach vorn, denn ich wusste: Ab der den Nordzipfel des Sees überspannenden Hammersundbrücke gibt es einen jähen Richtungswechsel nach Osten und dann nach Süden, was uns kräftigen Rückenwind für die letzten 40 km versprach. Aber der Weg zog sich. Das einzig aufmunternde war, dass wir selbst mit diesem, ja „Tempo“, noch die meisten überholten. Hier waren einige schon schwer am Schieben. Vor einem kleinen Hügel saß eine Frau mit ihrem Rad völlig konsterniert am Straßenrand und überlegte wohl, ob sie umkehren sollte. Dann die Erlösung: Im spitzen Winkel bogen wir rechts ab, und der Fahrradcomputer zeigte 35 km/h. Ich bin noch nie so schnell die Rampe auf die Brücke hochgefahren. In den Genuss mischte sich aber auch die Verbitterung über einige rücksichtslose Autofahrer, mit denen wir hier die Straße teilen mussten. Der Ausblick von der Brücke auf den Vätternsee ist einfach traumhaft, von Bäumen bestandene Schäreninseln im blauen Wasser, auf dem vereinzelt Segelboote unterwegs waren. Hinter der Brücke am vorletzten Depot bei km 260 wurde nochmal Kraft getankt, bevor es endgültig dem Ziel entgegen ging.
Martin spielte nun seine Stärken am Berg aus und nahm mir an jedem Anstieg 100 m ab, sodass er bald nicht mehr zu sehen war, denn die Anstiege häuften sich nochmal. Das Depot Medevi ließ ich aus, die letzten 20 km mussten auch so kommen. Ich hatte jetzt einen richtigen „Lutscher“ am Hinterrad, sah das aber nicht verbissen. Schließlich hatte ich zuvor zig km selbst gelutscht.
Km 293: Einbiegen auf die Hauptstraße Richtung Motala, straffer Rückenwind, Tempo 35.
Km 296: Ein Zug rauscht an mir vorbei, hintendran Martin, er hatte wohl im letzten Depot nochmal gehalten, „Los Vater, bleib dran!“
Selbst wenn ich trete, dass das Blut aus den Zehen spritzt, kann ich nicht dran bleiben. Was soll`s?
Km 299: Einbiegen auf die Uferstraße in Motala, Zielsprecher ist zu hören, Emotionen pur
Km 300: Es ist 11:28 Uhr, Martin steht unter dem Zielbanner, wir umarmen uns, wir sind einfach nur glücklich, bekommen unsere Medaille umgehängt,
mein Computer zeigt 300,27 km, Netto-Fahrzeit 11:15 h, das heißt 1:35 h Pausen
Wir setzen uns ans Seeufer und lassen die qualmenden Füße im See baumeln. Die Sonne scheint, und unaufhörlich kommen Radler ins Ziel, Rennsteiglauf-Atmosphäre. Und dann das happy end: Nach einer Viertelstunde kommen Wolfgang und Lukas ins Ziel. Super und verrückt. Lukas ist hier 300 km nahezu ohne Verpflegung (nur Wasser und ein paar Stück Banane) um den See gefahren.
Was bleibt? Kein Muskelkater – gut. Ein heftiges Stechen im Nacken – weniger gut.
Wozu gibt es Polsterstühle? Man kann auch 12 Stunden auf einem harten Sattel sitzen, ohne dass etwas weh tut. Wozu gibt es Betten? Man kann eine ganze Nacht im Sattel verbringen. Alles eine Frage des Trainings.
Ein Leben ohne Vätternrunde ist möglich aber sinnlos;-))
Nächstes Jahr die 50ste? Mal schauen. Kostet viel Zeit und Geld.
Startgebühr für ein paar Gummibrötchen und saure Gurken: 150 Euro.
Mir san halt alle deppert.
Dieter Ullrich
19.06.2014
Ein Kommentar
Hendrik Hultsch
Hallo Dieter,
ein sehr schöner Bericht … gefällt mir ausgesprochen gut.
Bitte mehr davon 🙂
Grüße Hendrik