Allgemeines

Charaktertest

Ein Viererteam machte sich dieses Jahr auf den Weg nach Neubrandenburg, um sich der Tor(Tour) der Mecklenburger Seenrunde zu stellen. Ok es waren nicht nur vier sondern über 3000 Teilnehmer, aber darunter vier vom Team der Laufgruppe LVB + friend. Zwei mussten und zwei wollten sich quälen. Da Hendrik und Helge den Deutschland Klassiker als ihr Lebensziel ausgerufen und das dazugehörige Langstreckenschwimmen, den Frankfurt-Marathon und den Skimarathon bereits bewältigt hatten, fehlte nun „nur noch“ der 300 km Radmarathon, was auch immer ein Radmarathon ist. Die inflationäre Verwendung des Begriffs Marathon widerstrebt mir eigentlich, aber die Radsportgemeinde definiert Strecken von 300 km und mehr auch als Marathon. Tim hatten wir als Zugpferd auserkoren, und ich wollte es nach 2015 und 2017 auch nochmal wissen, wie es sich anfühlt, nach zwölf oder auch mehr Stunden im Sattel das Ziel im Kulturpark von Neubrandenburg zu erreichen. Um es vorwegzunehmen, es fühlt sich immer wieder gut an, und dann weiß man auch, warum man es trotz einiger Schmerzen und Zweifel wieder getan hat.

Ich hatte mich wohl bezüglich meiner Hinfahrt nicht ganz klar ausgedrückt. Jedenfalls gab es das Problem, dass Helge den Transport von nur 3 Rädern geplant hatte und nun noch auf die Suche nach einem 3-er Fahrradträger gehen musste. Sein eigenes Rad wurde im Auto verstaut. War ein bisschen eng, war aber auszuhalten. Die Nachbarin konnte uns aushelfen und stellte ihren Fahrradträger leihweise zur Verfügung. Gegen 15 Uhr ging es dann los in den hohen Norden, wobei ich nicht so ein gutes Gefühl hatte. Mir war es in der Vorbereitung zu kalt zum Radfahren, und auch die Prognose für den Renntag war nicht überragend. Das einzig Positive daran war, dass kein Regen zu erwarten war.

Auf der Homepage der Vätternrunde, dem Vorbild der Mecklenburger Seenrunde, werden 1000 Trainingskilometer empfohlen. Ich kam auf 700 km, war also eher schlecht vorbereitet, hoffte auf Gruppen, in denen man mitrollen kann und auf wenig Wind. Zumindest der zweite  Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen.

Größenvergleich: hinter Tim bekam man gut Windschatten

Im Start-Zielbereich angekommen hielten wir uns nicht lange auf, holten nur unsere Startunterlagen ab und inspizierten einige der sogenannten Nightrider, die schon ab 20 Uhr auf die Strecke gehen und die ganze Nacht durchfahren. Das haben wir 2015 praktiziert, hatte auch seinen Charme, aber schöner ist es doch am Tage. 3 km entfernt vom Start befand sich unser Quartier, wo unsere liebevollen Gastgeber (5 Sterne) uns schon erwarteten und sofort den Grill anwarfen. Es war beeindruckend, was hier aufgetafelt wurde. Man konnte so zwischen etwa 10 verschiedenen Biersorten wählen. Schade eigentlich, dass wir morgen 300 km Rad fahren wollten, exakt waren es 301,5 km. Energie hatten wir auf jeden Fall genug getankt.

Die Nacht sollte sehr kurz werden. Wir hatten uns für den Startblock um 4 Uhr gemeldet. 3 Uhr war Wecken, noch einen Kaffee und ein Croissant eingeworfen, die Fahrräder waren präpariert – halt: nicht ganz. Hendrik brauchte noch eine gefühlte Viertelstunde, um seine ganze Technik zu installieren. Selbst eine Notstromversorgung war an Bord, ein rollendes Navi-Entertainment-Center. Dann ging es durch das nächtliche Neubrandenburg zum Start. Da es noch dämmrig war, war für alle Starter bis 4:30 Uhr Licht am Rad vorgeschrieben, und das wurde am Start auch kontrolliert. Natürlich war unser auf den ersten Kilometern von einer Polizei-Eskorte begleiteter Startblock schon weg, aber in der Ferne sahen wir noch die Rücklichter und hetzten mit 2 Minuten Verspätung hinterher. Am Fuße des Berges in der Namen gebenden Bergstraße hatten wir den Anschluss an die Gruppe hergestellt, die sich aber sofort in die Länge zog, weil das für norddeutsche Verhältnisse schon ein ziemlicher Anstieg war. Einige waren schon im Rennmodus. Für mich begann des Rennen als ich oben war. Der Motor war warm gelaufen. Alles andere als warm waren die Außentemperaturen an diesem frühen Morgen. Bei 10°C hatten wir uns für lange Bekleidung entschieden, denn auch über den Tag sollte es nicht wesentlich wärmer werden. Während der Moderator am Start noch von einem überwiegend sonnigen Tag sprach, sah die Realität komplett anders aus. Es war kühl, was sich bei mitunter heftigem Nordwestwind noch kühler anfühlte, und die Sonne kam erst am Abend heraus, als wir schon fast im Ziel waren.

Nach einer halben Stunde hatten wir uns eingerollt

Obwohl ich auf diesem Kurs schon zum dritten Mal unterwegs war, erstaunten mich doch wieder die vielen Anstiege, die sich gerade auf den ersten 40 km in der Feldberger Seenlandschaft häuften. Umso berauschender waren dann natürlich die Abfahrten, aber ein richtiger Rhythmus wollte sich nicht einstellen. Die Gesamtstrecke weist immerhin 2345 Höhenmeter auf, das Doppelte der Vätternrunde. Da hat die Kopie dem Original die Schau gestohlen.

Die 90 km Runde ist den Frauen vorbehalten, Männerdiskriminierung??
Frauen dagegen dürfen den Männern auf der 300 km Strecke die Hacken oder auch andere schöne Körperteile zeigen, finde ich in Ordnung. Überholen erwünscht!

So durch die wunderschöne Feldberger Seenlandschaft zu hetzen ist eigentlich Frevel. Da verbringen andere ihren Urlaub. Dort sollte man verweilen. Wir hatten dafür nur eine Viertelstunde im Depot am Haussee bei km 41, wo wir unser Frühstück zu uns nahmen. Fünf Minuten gab’s noch drauf, bis Hendrik seine Technik wieder montiert hatte, dann ging es Richtung Neustrelitz weiter durch die hügelige Landschaft. Auf dem Kopfsteinpflaster in Neustrelitz wurde man richtig durchgerüttelt. Einige hatten ihre Ersatzschläuche verloren oder auch die Rücklichter. Großer Andrang mit Schlangestehen an der „Essensausgabe“ bei km 85. Bemmchen und Kaffee und davon viel. Hendrik musste schon zum zweiten Mal pinkeln. Er wurde heute zum Jürgen Sch. der MSR. Jürgen hatte es vor vielen Jahren tatsächlich fertiggebracht, nach jeder Runde des Wintermarathons bis km 25 pinkeln zu müssen. Heute wiederholte sich das bei Hendrik. Komisch ich brauche meine Körperflüssigkeit zum Schwitzen. Da bleibt fürs Wasserlassen nichts mehr übrig.

Anschließend gab es eine Streckenänderung im Vergleich zu 2015. War wohl zu flach die alte Strecke. Über Wesenberg bis Wustrow rollte es ja noch super, aber danach wurde es wieder heftig. Ich hatte etwas den Anschluss verloren, es wurde wieder hügeliger, so ein Loch schließt man allein nicht mehr. Da war ich den Dreien wirklich dankbar, dass sie auf mich warteten. Besonders hat sich – wie von uns geplant – Tim Bestnoten verdient, der sich immer wieder vor unsere kleine Gruppe spannte und Windschatten bot. Aber auch Hendrik war in Topform. Wie macht der Kerl das bloß? Heimlich trainiert? Was eingeworfen? Die Strecke zum dritten Depot in Schwarz war landschaftlich sicher einer der schönsten Streckenabschnitte. Auf schmalen gut asphaltierten Straßen rollten wir durch die Mecklenburger Wälder immer wieder entlang von Seen. Wie es hinterher hieß, begegneten die Nightrider wenig überraschend Wildschweinen, Dachsen und anderem Getier. Wir mussten uns mit ein paar Kranichen und Störchen zufrieden geben. Aber die Strecke hatte es in sich. Nach jeder bewältigten Kuppe sah man vor sich schon die nächste. Unser Spruch war dann: Wenn ich in die Berge will, fahre ich eigentlich in die Alpen und nicht nach Mecklenburg, kann mir den langen Weg aber auch sparen. Zu allem Überfluss befand sich das Depot in Schwarz unten am See, den Berg auf die Strecke zurück mussten wir wieder hoch. Ich will nicht übertreiben, aber die Summe der vielen Anstiege, die uns bis zum Ende der Tour begleiten sollten, konnte einem den Zahn ziehen. Dass hier aber die meisten Wiederholungstäter waren, zeigte sich daran, dass von den über 2000 Startern auf der großen Runde nur 50 nicht im Ziel ankamen. Dazu wollte ich nicht unbedingt gehören.

Depot Röbel bei km 155, gut versichert waren wir auch

Das Hauptdepot in Röbel erwartete uns. Die Hälfte war geschafft. Wer immer noch oder schon wieder hungrig war, bekam hier fast alles, was das Herz begehrte. Hauptgang waren die Spaghetti mit Tomatensoße. In einer Ecke standen Tische mit der Schwedenfahne und typisch schwedischer Verpflegung wie Blaubeersuppe oder Haferkeksen. Wir saßen mit zwei Neubrandenburgern am Tisch, die uns schon auf dem vorherigen Streckenabschnitt begleiteten. Sie hatten offensichtlich den Plan, von unserm bzw. Tims Windschatten zu profitieren und warteten auf unsere Weiterfahrt.

Ihr Plan ging auf. Wir wurden sie bis fast zum Ende nicht mehr los. Nein, das ist nicht richtig. Sie waren sehr kooperativ und wir hatten nette Unterhaltung mit ihnen. Zu sechst fährt es sich auch leichter als zu viert. Immer wieder wurden wir jetzt aber von Expresszügen überholt, großen Teams in einheitlicher Bekleidung, die hier mit Tempo 40 und mehr um die Seen heizten. Das Gegenteil waren die zwei jungen Burschen, die auf einem Tandem in Klappfahrradgröße die 300 km bewältigten. Wir trafen sie bei km 193 im Depot Nossentiner Hütte. Sie waren bestimmt am Abend zuvor gestartet, hatten also etwa sieben Stunden Vorsprung auf uns gehabt. Da Zielschluss in Neubrandenburg erst um 24 Uhr war, hatten sie genug Zeit, um rechtzeitig anzukommen. Das sind die wahren Helden der MSR.

Landschaftlich etwas für Genussfahrer, sportlich ein Anstieg der Leiden
Genau bei km 180 in Lenz am Plauer See, die Berge werden nicht mehr meine Freunde

Mindestens ein wirklich bedeutsamer Punkt stand uns noch bevor, und den ersehnte ich schon seit mindestens 50 km. Es war nicht die Tafel, die uns mitteilte, dass nur noch 100 km zu fahren wären. Entscheidend für den Kopf war der scharfe Ostknick drei Kilometer später in Vollrathsruhe. Wir bekamen von jetzt an bis ins Ziel fast nur noch Rückenwind. Auch wenn man es ihm nicht ansah, Tim war schon seit 25 km über seinen bisherigen Streckenrekord hinweg. Kein Hit für ihn. Er spannte sich weiter vor uns.

Gut für die Seele, wenn auf dem Fahrradcomputer eine 200 steht

Weiter in stetigem Auf und Ab steuerten wir das Depot Alt-Schönau bei km 240 an. Dieses habe ich von meinen bisherigen Teilnahmen in bleibender Erinnerung. 2015 kam ich hier früh um 6 Uhr an, es regnete, es war hundekalt. Auf dem Hof standen Feuerschalen, um die sich ein paar frierende Radfahrgestalten gruppiert hatten. Einige gaben hier auf. 2017 standen Wasserbecken auf dem Hof, in denen schwitzende Radfahrer bei 30°C ihre brennenden Füße kühlten. Diesmal war alles im grünen Bereich. Kein Tag der Extreme. Man sollte nur bedenken, dass das nächste Depot in Möllenhagen wegrationalisiert wurde und deshalb nochmal ordentlich essen und trinken. Das taten wir denn auch.

In Alt-Schönau konnte man es sich bequem machen. Waren ja nur noch 60 km bis ins Ziel.

Da nun ein Ende absehbar war und wir vom Rückenwind verwöhnt wurden, ich auch meinen Tiefpunkt überwunden hatte, nahm Helge Tim die Fesseln ab. Er wollte mal sehen was noch geht. Und da ging noch viel. Sage und schreibe 40 Minuten nahm er den alten Säcken auf 60 km noch ab. Unsere beiden Neubrandenburger Begleiter wollten wohl auch noch ihre Grenzen ausloten und ließen das letzte Depot in Penzlin aus. Vorher passierten wir Ankershagen, wo Heinrich Schliemann, der Entdecker von Troja, seine Kindheit verbrachte. Da ich nun schon dreimal an diesem Museum vorbeigefahren bin, habe ich mir vorgenommen, dieses in nicht allzu ferner Zeit auch mal zu besuchen.

Km 243, danach gab Tim richtig Gas
Nach13 Stunden im Sattel (minus Pausen), besser als auf einem Holzpferd geritten

Der Rest ist schnell erzählt. Nach einem kurzen Stopp in Penzlin, wo dann tatsächlich die Sonne herauskam und es unter der langen Jacke fast zu warm wurde, hatten wir noch 20 km vor der Brust. Die Hügel wollten auch hier kein Ende nehmen. Entschärft wurden sie durch die Euphorie der begeisterten Menschen in einigen Dörfern, wobei ganz besonders Chemnitz zu nennen ist. Hier herrschte wie die Jahre zuvor schon Volksfeststimmung. Da tut einem nichts mehr weh. Man spürt förmlich wie das Ziel näher rückt. Wir werden noch vom etwa 30 Radler umfassenden Express der Deutschen Post überholt. Alle ganz in Gelb, mittendrin ein paar Frauen, hinten dran des Begleitfahrzeug. Wenn die nur im echten Leben auch so schnell wären und nicht immerfort nur das Porto erhöhen würden!

Die rauschende Abfahrt auf der Bundesstraße wurde ebenfalls zu einer Kopie der Vorjahre. Man sieht vor sich Neubrandenburg, hat 40 km/h auf dem Tacho, und die vorletzte Ampel springt auf Rot. Das nervt unglaublich. Dann gab es aber mal was Neues an der letzten Ampel, an der man von der Bundesstraße rechts in den Kulturpark abbiegt, aber nichts Gutes. Ein 30er Pulk kommt angeschossen, wir mittendrin, die Ampel zeigt – natürlich – Rot, ein Ordner winkt uns durch, die Gruppe biegt rechts ab, wir werden bei km 299 tatsächlich geblitzt. Wohl doch nicht alles Karbonräder! Bin gespannt, was jetzt passiert. Unsere Startnummern sind gut erkennbar. In der Wettkampfordnung steht, dass die StVO einzuhalten ist. Nun ja der Veranstalter wird sich für uns ins Zeug legen. Da bin ich sicher.

Wir rollen berauscht ins Ziel, Tim erwartet uns mit einem kühlen Bier. Das haben wir uns jetzt mehr als verdient. Helge und Hendrik haben einen Adrenalin-Schock. Sie bekommen endlich ihre Medaille für die Bewältigung der Deutschland Klassiker. Glückwunsch, Ihr seid Helden!

Tim hält unser Bier kühl
Die Deutschland Klassiker halten ihre Medaillen fest
Bei mir hat’s nur zur MSR Medaille gereicht,
die habe ich dann auch noch bei unsern Gastgebern liegen lassen

Die 3 km ins Quartier tun nicht wirklich weh. Dort werden wir wie am Vortag schon am Grill erwartet. Leider kann ich den Termin nicht wahrnehmen. Die Waden brennen nicht, aber dafür der Magen. Das kalte Ziel-Bier hat irgendwas durcheinander gebracht.

Fazit: Es war eine große Freude, in diesem Team dabei zu sein. Den Charaktertest haben alle bestanden, besonders aber Tim als „Führungsfahrzeug“. Und: Gerade in Zeiten der massenhaften Verbreitung von E-Bikes ist es eine Genugtuung, noch ehrlich Rad zu fahren. Oder wie es so schön auf der MSR-Homepage heißt: „Mal raus aus der Komfortzone“ zu kommen. Die MSR ist eine top organisierte Veranstaltung. Alles läuft wie am Schnürchen. Die Helfer sind freundlich. An allen neuralgischen Punkten stehen Streckenposten. An Unfällen gab es nur zwei selbstverschuldete durch Unachtsamkeit, die in Oberschenkelhalsbrüchen endeten, einer davon bei der Zieleinfahrt. Die Stimmung an der Strecke ist ausbaufähig, am Ende aber wie erwähnt gigantisch.

SNR   Name                      Ort     Startzeit  Neustrelitz    Röbel   Alt-Schönau   Penzlin      Ziel

2011   ERDMANN Tim      Leipzig 04:01:10    07:48:14  10:49:51    15:44:39     17:01:46   17:40:40

2017   HALLMANN Helge Leipzig 04:02:23    07:48:15  10:49:53    15:44:38     17:21:45   18:21:53

2048   HULTSCH Hendrik Leipzig 04:02:20    07:48:19  10:49:53    15:44:46     17:21:45   18:21:54

2063   ULLRICH Dieter     Leipzig 04:02:16    07:48:16 10:49:51    15:44:40     17:21:44   18:21:58

Strecke mit Höhenprofil: https://www.gpsies.com/mapOnly.do?fileId=ccabxffvangipxob&isFullScreenLeave=true

MSR-Homepage: https://mecklenburger-seen-runde.de/

Bilder: Sportograf GmbH & Co KG, Hendrik Hultsch

Bericht: Dieter Ullrich

In memoriam Wilfried Korth

04.06.2019

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