Allgemeines

In der Hölle des Nordens

Der Teufel war auch dabei

Ich habe mich verliebt, auf den ersten Blick! Wer ist die Unglückliche? Die Mecklenburger Seenrunde (MSR). Ok wie in einer echten Beziehung kamen nach dem ersten Blick auch einige Dissonanzen auf, auch Flüche, aber was soll es? Am Anfang und erst recht am Ende stand bzw. steht die Liebe.

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Irgendwann Ende 2014 fragte mich Helge, ob wir diese 300 km lange Radrundfahrt für Volkssportler durch die Mecklenburger Seenplatte nicht mal mitmachen wollten. Gesagt getan, wir holten Micha noch ins Boot, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, bewarben wir uns um eine Startzeit am späten Freitagabend, um die Nacht durchzufahren. Auf diese Weise hatte ich die als Vorbild für die MSR dienende Vätternrunde in Schweden bereits dreimal mit guten Erfahrungen bestritten. Was ich nicht dabei bedachte, war, dass wegen der 500 km südlicheren Lage Mecklenburgs und dem zwei Wochen zeitigeren Austragungstermin die Nacht viel länger ist als Mitte Juni in Schweden. Außerdem unberücksichtigt blieb von mir die wesentlich geringere Teilnehmerzahl. In Schweden sind es 20000 Starter, in Mecklenburg 2000, und während bei der Vätternrunde die ganze Nacht hindurch Trupps im Minutenabstand an den Start gehen, gibt es bei der MSR nur zwei Startzeitfenster am Freitagabend und am Samstagmorgen. Wer also am Freitagabend startet und nicht zügig unterwegs ist, kann das Pech haben, die ganze Strecke nahezu allein fahren zu müssen.

Die Vorbereitung lief für uns alle drei sehr holprig. Besonders schlimm traf es Micha, der bei einer langen Trainingsfahrt von einem Auto angefahren wurde, stürzte und sich das Schlüsselbein brach. Hinzu kam noch die Fahrerflucht des Verursachers. Also mussten wir uns einen neuen dritten Mann suchen. Hendrik ist ja so eine Art Joker. Wie schon beim Wintermarathon, wo er kurzfristig zusagte, war er auch hier sofort bereit mitzufahren. Für mich undenkbar! Sein Rennrad aus dem Verkehrsmuseum hatte er zwei Jahre nicht benutzt (oder noch länger?), ein echtes Stahlross. Helge setzte auf seine Lauffitness, ich kam nach Implantation eines neuen Schrittmachers (der mir beim Radfahren aber keine Schrittmacherdienste leistete) wenigstens noch 5 Wochen zum regelmäßigen Radfahren, war vom medizinischen Personal aber eigentlich zu sechs Wochen Schonung verdonnert worden. In Trainingsplänen wird angegeben, dass man vor so einer Mammuttour mindestens 1000 km und davon mindestens zweimal über 100 km am Stück gefahren sein sollte, um überhaupt durchzukommen. Ich schaffte die 1000 km mit meiner letzten Trainingsfahrt, Hendrik hat sich der Empfehlung komplett verweigert und bewegte sich wahrscheinlich im zweistelligen km-Bereich in der Vorbereitung. Nun ja, und Helge hat sich letzten Endes mit seiner guten Laufgrundlage über die Ziellinie gerettet.

Bei unserer Ankunft im Start-/Zielbereich am Freitagnachmittag in Neubrandenburg direkt am Tollensesee war dort nicht viel los. Man war größtenteils noch mit dem Aufbau der diversen Versorgungszelte befasst. Auf der Bühne sorgte Extremsportler Joey Kelly für etwas Stimmung. Wir hielten uns da nicht lange auf und holten nur unsere Startunterlagen ab. Nebenbei fand Hendrik noch sein Traumrad für die nächste MSR. Allerdings könnte dieses Modell dann schon wieder technisch veraltet sein.

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Hendriks Traumrad

In unserem 10 km entfernten Quartier grübelten wir über die Anzugsordnung und informierten uns über die Wetterprognosen. Die sahen nicht so schlecht aus. Natürlich sollte es nachts kalt werden, 8°C waren angekündigt, aber es sollte dabei weitestgehend trocken bleiben. Damit wurden die Meteoro-Lügen ihrem Ruf wieder vollauf gerecht. Wir zogen an warmer Bekleidung eigentlich alles an, was wir hatten. Langärmlige Trikots, lange Hosen, Windstopper, Regenjacke, Handschuhe, Überschuhe, Kopfschutz. Damit hatten wir alles richtig gemacht, nur dachten wir zu diesem Zeitpunkt, dass wir unterwegs davon etwas ausziehen könnten, aber das Gegenteil war der Fall. Man hätte nachts noch mehr anziehen können.

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Team „Fockebergpower“
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Team „Fockebergpower“

Unsere Startzeit war 21:05 Uhr. Der Veranstalter nennt uns liebevoll Nightrider. Was uns eigentlich erwarten sollte, wurde mir erst beim Warten auf den Start klar. Da startete eine Gruppe um 20:32 Uhr, dann passierte fast eine halbe Stunde lang gar nichts. Wir würden zunächst keine Chance haben, uns mit irgendeiner Gruppe zusammen zu tun, weil die Abstände nach vorn und hinten zu groß waren. Wir gingen mit etwa 50 Radlern auf die Strecke. Durch Neubrandenburg hindurch fuhren zwei Polizeimotorräder vornweg, um uns in der Anfangseuphorie etwas zu bremsen. Allerdings kam schon bei km zwei – natürlich in der Bergstraße – ein Berg, wie man ihn in Neubrandenburg nicht erwartet hätte. Während Hendrik den Berg hochstürmte als wäre oben das Ziel, hatte ich Mühe, die Motorräder im Blick zu behalten. Oben angekommen keuchten Helge und ich schon heftig, aber zum Glück hatten wir nur noch 298 km vor uns und einen Berg weniger. Danach kam man allmählich wieder zur Besinnung, aber bis zum ersten Depot – auch dieser Begriff für die Verpflegungsstationen wurde von der Vätternrunde übernommen – in Feldberg nach 41 km war es ein ständiges Auf und Ab. Insgesamt weist die MSR 2100 Höhenmeter auf. Das bekamen wir insbesondere – aber nicht nur – auf den ersten 40 km zu spüren. Wir hatten uns gerade einigermaßen eingerollt, das Gros der mit uns Gestarteten war schon weit voraus und unseren Blicken entschwunden, als wir das Städtchen Burg Stargard erreichten. Wir konnten uns ein etwas schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen, denn der ganze Pulk stand an einer geschlossenen Bahnschranke. Es war ein bisschen wie bei Hase und Igel. Die Truppe war nun etwas ruhiger geworden, sodass es doch in einem größeren Fahrerfeld weiterging. Mittlerweile wurde es dunkel, ich merkte, dass ich an der falschen Stelle gespart hatte. Meine Funzel war vielleicht von vorn zu sehen, aber zum Ausleuchten der Straße reichte sie nicht. Wir rollten in breiter Front durch den nachtschwarzen Wald als plötzlich wie aus dem Nichts ein Auto auftauchte. Puh die erste kitzlige Situation. Gruppenfahren erfordert so schon höchste Konzentration, nachts wird das Ganze zum russischen Roulette. Allerdings habe ich während der ganzen Fahrt keine schlimmen Stürze gesehen.

In Feldberg nahmen wir Kaffee und Brötchen zu uns, und dann kam meine kritikwürdige Aktion. Tut mir Leid Jungs, aber ich merkte wie gut es heute rollte, und drückte nun etwas aufs Tempo. Ich konnte mich leider nicht an die vorher getroffene Absprache des gemeinsamen Fahrens halten. Als Teamplayer habe ich heute versagt. So rollte ich einfach weiter und bekam Helge und Hendrik bis ins Ziel nicht mehr zu Gesicht. Nach etwa 5 km Alleinfahrt kam endlich die sehnlichst erhoffte Gruppe an mir vorbei gerollt. Das waren einfach Einzelkämpfer, die sich zusammen gefunden hatten und merkten, dass es gemeinsam besser geht. Ich biss mich hinten fest. Es war genau mein Wohlfühltempo. Nur die Anstiege bereiteten mir Probleme. Bergab konnte ich mühelos wieder aufschließen. Es rollte super, genau 0 Uhr waren wir in Neustrelitz (75 km). Auf der Pflasterstraße zerfiel die Gruppe, ich war plötzlich wieder allein. Im Augwinkel sah ich das Hinweisschild „Depot noch 200 m“, verpasste aber die Einfahrt. Mir kamen zwei Radler entgegen und fragten nach dem Depot. War wirklich schlecht ausgeschildert. Zum Zurückfahren und Suchen hatte ich keine Lust.

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Depot 2

Das nächste Depot würde in Röbel kommen, über 50 km. Das wären dann von Feldberg fast 90 km ohne Verpflegung. Ich wusste, dass das jetzt Harakiri werden könnte weiterzufahren. Aber bevor ich weiter nachdenken konnte, kam wieder eine Gruppe vorbei. Also hintendran und kraftsparend mitfahren. Zu trinken hatte ich noch reichlich. Die Strecke war jetzt total flach und führte durch Gegenden, die ich von früheren Urlaubsreisen kannte. Leider war nichts zu sehen von Mirow, von der Müritz. Totale Dunkelheit. Was aber viel wichtiger war im Moment: Wir fuhren ein knappes 30er Tempo, und ich konnte im Windschatten immer wieder einen Tritt auslassen. Mein Blick galt fast ausschließlich dem Hinterrad meines Vordermanns. Erstaunlich und für mich erfreulich, es gibt immer wieder die Leithammel, die gern vorn fahren und gar nicht wollen, dass jemand anders die Führungsarbeit übernimmt. Ein Argument spricht dafür: Bei einem Sturz sind sie fein raus. Dafür verschleißen sie sich aber auch über Gebühr. Ich war jetzt schon etwas berauscht. Wir kamen um 2 Uhr in Röbel an und hatten 130 km auf dem Tacho. Und ich fühlte mich gut. Es gab keine wirkliche Begründung dafür. Ich lag weit über meinen eigenen Erwartungen. So nahm ich mir am Depot in Röbel direkt an der Müritzpromenade richtig Zeit. Es gab Nudeln Bolognese, dazu Kaffee, Tee, Isogetränke und vieles mehr. Dies war hier versorgungstechnisch das Hauptdepot. Mir saß ein bemitleidenswerter Mitstreiter gegenüber. Für ihn stand fest, dass er hier aufhört. Er wartete auf den Bus um 2:50 Uhr, der ihn ins Ziel bringen würde. Das war perfekt organisiert und in den Startgebühren enthalten. Ein Reisebus mit Fahrradanhänger fuhr nach festem Fahrplan und sammelte die verhinderten Helden der Landstraße samt ihren Rädern ein. Dies wollte ich noch nicht in Anspruch nehmen. Wäre schade gewesen, denn noch war es trocken, hin und wieder spendete der zaghaft hinter den Wolken hervorlugende Mond etwas Licht. Alles im grünen Bereich.

Ich hielt Ausschau nach einem Trupp, der aufbricht, aber da tat sich nichts. Nach 20 min Pause machte ich mich allein auf den weiteren Weg. Und wieder hatte ich zumindest etwas Glück. Am Anstieg aus Röbel heraus kam ein einsamer Kämpfer an mir vorbei, und mit leichter Temposteigerung konnte ich dranbleiben. Im flachen Bereich konnte ich gut mitfahren, am Berg war er mir etwas zu schnell. Aber es gibt ja richtige Kumpel. Er wartete immer wieder auf mich. Er war aus Stralsund, sag noch mal einer was gegen Fischköppe. Wir unterhielten uns und fuhren sogar eine ganze Weile nebeneinander. Wir kreuzten wohl dreimal die Autobahn nach Rostock, die an dieser Stelle wegen Bauarbeiten gesperrt war. Wir rollten dummerweise genau auf der Umleitungsstrecke. Im Minutentakt preschten LKW’s an uns vorbei. Das war nicht lustig. Nach der zweiten Autobahnquerung bogen wir scharf rechts ab. Plötzlich gab es einen Schlag, und mir riss es den Lenker aus der Hand. Ich hatte ein riesiges Loch voll getroffen und großes Glück, dass ich einen Sturz vermeiden konnte und in meinem Vorderrad keine Acht war. Ist halt Martin-Götze-Wertarbeit. Am hinteren Rahmenrohr hatte Martin Götze sein Logo „Martin Götze – Schöne schnelle Räder“ aufgeklebt. Als ich voriges Jahr zu ihm sagte, dass es da doch keiner sehen würde, lautete seine Antwort: „Das darf man nur von hinten sehen“. Nun, so schnell war ich dann doch nicht.

Es folgte eine sicher bei Tageslicht und Sonnenschein traumhafte Strecke auf schmaler, gut asphaltierter Straße in vielen Windungen durch den Wald und am Ufer des Petersdorfer Sees entlang bis zum Plauer See, dann wieder mit kurzem knackigen Anstieg zurück Richtung Malchow. Ich musste das Tempo komplett herausnehmen, sah mit meiner Funzel fast nichts mehr. Mein Stralsund-Begleiter hatte eine richtige Powerlampe, aber der war weg. Aufatmen als es wieder auf eine beleuchtete Ortsdurchfahrt ging. An Malchow vorbei, ebenfalls eines meiner früheren Urlaubsziele, bekam man wieder etwas zu sehen. Ganz langsam kam so etwas wie Morgendämmerung auf. Vögel begannen zu zwitschern. Zum Ausgleich, damit es nicht zu einfach wird, begann es nun zu regnen. Was aber noch nicht so störend war, da der Rückenwind heftig schob. Trotzdem war ich wiederum überrascht, als ich das nächste Depot bei km 176 in Nossentiner Hütte erreichte. Meine Uhr zeigte 4:15 Uhr. Ich konnte mir Zeit lassen. Hier bediente uns die Freiwillige Feuerwehr mit lecker Kuchen, mit Wurstbemmen, mit Salzgurken und und und… Nebenan gab es einen Raum mit Liegen. Wer müde war konnte sich hinlegen.

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Helge bei 200 km: hier zeigte mein Fahrradcomputer 199,96 km, ich fuhr ab hier bis ins Ziel allein

Ich war nicht müde und begab mich auf die nächste Etappe. Nochmal fand ich eine Gruppe, die mir aber zu schnell war. Die fuhren ein 35er Tempo, was mir selbst im Windschatten zu heftig war. Es wurde nun sehr einsam, und meine Titelzeile kommt ins Spiel. Es regnete mittlerweile in Strömen, der Wind kam von der Seite und ich war mutterseelenallein unterwegs. Der Begriff „Hölle des Nordens“ ist ja an den Radklassiker Paris-Roubaix vergeben und leitet sich von den grausamen Kopfsteinpflasterpassagen ab. Was jetzt hier bei der MSR passierte, war, wenn schon nicht die Hölle so doch mindestens das Fegefeuer, dafür aber viel zu kalt. Am Depot Alt-Schönau bei km 228 hatte man drei Feuerkörbe aufgestellt, um die sich die jämmerlichen Figuren wie ich versammelt hatten, um etwas Wärme aufzunehmen. Da saßen durchtrainierte Radsportler und zitterten wie Espenlaub, teilweise auch mit kurzen Hosen. Ja Herren, wer fährt denn auch so los, wenn 8°C angesagt sind? Sie wollten jetzt jedenfalls nur noch eins: Im warmen Bus ins Ziel fahren. Die DNF-Einträge im Zielprotokoll sind entsprechend insbesondere bei den Nightridern sehr zahlreich. Da konnte wirklich jeder stolz sein, der ohne Busbenutzung im Ziel ankam.

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Helge in Alt-Schönau, der Aufwärmstation
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Hendrik in Alt-Schönau, der Aufwärmstation

Ich mühte mich mit teilweise 15 km/h gegen den Wind, wobei ich vereinzelt noch Mountainbiker oder Radler mit konventionellen Straßenfahrrädern überholte. Ist kein Kunststück aber gut für den Kopf. Das Teilstück wollte kein Ende nehmen. Ich lächele nie wieder über die Bezeichnung „Mecklenburgische Schweiz“. Das ist die Gegend bei Torgelow, wo sich vor 100 000 Jahren die Eiszeit ausgetobt hat. Die Hinterlassenschaften in Form von Hügeln, die mir wie das Matterhorn vorkamen, mussten wir jetzt ausbaden. Zur Abwechslung passierte ich das Dorf Sorgenlos. Also Humor haben die Veranstalter der MSR, nur konnte ich darüber nicht mehr lachen. Dann war aber wirklich der Knackpunkt erreicht: das Depot Möllenhagen, 40 km vorm Ziel. Kurze Hochrechnung, ich konnte es noch schaffen, vor 10 Uhr im Ziel zu sein. Vorher versorgten mich die Jungs und Mädels vom Fußballverein Möllenhagen. Wunderbare Atmosphäre und großes Engagement wie überall an der Strecke. Dazu gab es sogar einen Ansatz von Sonnenschein.

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Radsportfanatiker und alljährliches Tour-de-France-Original, bevorzugt an schweren Passstraßen zu finden: Didi Senft aus Brandenburg

Ich hatte jetzt einen Plan, der darin bestand, ruhig und gleichmäßig weiterzufahren und das letzte Depot in Penzlin auszulassen. Die letzten 23 km sollten auch so kommen. Die Gegenwindpassage war überstanden. Was sollte jetzt noch passieren? Es kann so viel passieren… Am Trojanischen Pferd in Ankershagen (Schliemann: Entdecker Trojas) vorbei kam ich unbeschadet und frohen Mutes nach Penzlin, links das Depot: nö brauchte ich nicht. Weiter durch das Städtchen auf Kopfsteinpflaster? Nein lieber auf dem glattgepflasterten Fußweg. Ging super. Dann hinunter zur Bundesstraße. Da stand Neubrandenburg 14 km. Was fehlte, war ein Streckenposten und ein MSR-Wegweiser. Mist wieder 1,5 km zurück bergauf und gegen den Wind. Oben kamen mir zwei Radler mit gelben Jacken entgegen. Meine Frage: Wo geht es lang? Na da vorn links. Toll, das Minischild hatte ich übersehen. Also hinterher hinter den Gelbjacken. Die hatten etwas Vorsprung. Die Bundesstraße gekreuzt, dann kam das Schild „noch 20 km“. Ich hatte noch 47 min Zeit bis 10 Uhr. Sehr profiliert und in ständigem Auf und Ab passierten wir noch ein paar Dörfer. Dann eine Abfahrt, ich hatte mich fast an die Gelbjacken herangekämpft. Unten ein Bahnübergang, die Gelbjacken waren drüber, dann blinkte die Ampel rot, und die Halbschranken schlossen sich. Ich wollte ja nicht drüber fahren, nur mal schauen, ob schon ein Zug zu sehen wäre. Da kam ein Triebwagen, ich musste richtig stehen bleiben, blieb in meinen Klickpedalen hängen und fiel einfach um. Nichts passiert, aber mein Sattel hatte sich verdreht. So ging es nicht weiter. Also Imbusschlüssel rauskramen, Sattel richten. Die Zeit verrann. Nachdem sich die Schranke endlich geöffnet hatte, musste ich nun aus dem Stand den Gegenanstieg bewältigen. Die Gelbjacken waren weg. Sollte ich mir meine sicher geglaubte Ankunftszeit noch vermasseln? Nächster Ort war ein Dorf namens Chemnitz. Hier waren die meisten Transparente und Mutmacher-Schilder angebracht. Ein radsportbegeistertes Dorf. Ich hätte lieber woanders hinschauen sollen, denn nach Querung einer Hauptstraße und weiteren 500 m stand ich plötzlich vor einem Sackgassenschild. Das konnte doch nicht wahr sein. Wieder hatte ich mich verfahren und einen Abzweig verpasst.

Der Rest ging so. In Wulkenzin kam ich auf die B192, noch ein letzter Anstieg, dann lag mir Neubrandenburg zu Füßen. In rasender Abfahrt und bei starkem Autoverkehr gab es nun – fast – kein Halten mehr, denn nochmals bremste mich eine rote Ampel aus. Dann noch durch den Kulturpark und über die Oberbachbrücke, eine mit einer Gummimatte ausgelegte Bogenbrücke für Fußgänger, die einem nochmal das Herz stocken ließ, und die Zielgasse war erreicht. Es war 9:59 Uhr, auf meinem Fahrradcomputer. Tatsächlich hätte ich mir noch 3 min Zeit lassen können, denn es war erst 9:56 Uhr. Meine eiserne Reserve. Bei mir waren es 303 km, die 3 km waren meine Umwege.

Nun hieß es warten auf HH & HH. Ich hatte keine Ahnung, wo sie waren und wann sie kommen würden und hatte ein schlechtes Gewissen. Der Wind blies heftig, ich begann zu frieren und suchte Schutz in einem Versorgungszelt. Eine schwarze Wand zog auf. Sollten die beiden jetzt nochmal pitschnass werden? Ja sie sollten, und das war noch nicht das Ende. Nachdem sich die Sonne wieder für einige Zeit gezeigt hatte, kam die nächste richtig schwarze Wand. Die Pappbecher des Wernesgrüner-Standes flogen durch die Gegend, ein Partyzelt gab den Geist auf. Ich verkrümelte mich in das stabile Orga-Zelt, wo ich am Computer zumindest erfuhr, wann Helge und Hendrik die Zeitnahme in Alt-Schönau – 72 km vor dem Ziel – passiert hatten. Das gab Hoffnung. Doch bevor sie kamen, ging noch ein heftiges Gewitter mit ein paar Hagelkörnern hernieder. Also die Tagfahrt wäre auch nicht amüsant geworden.

Unterdessen spielten sich im Zielbereich unglaubliche Szenen ab. Hier kam eine – nicht gerade wie eine Leistungssportlerin aussehende – Frau auf ihrem stinknormalen Damenfahrrad mit Lenkertasche freudestrahlend nach 300 km ins Ziel. Der Moderator verließ sein Moderatorenhäuschen, daher der Begriff „er ist völlig aus dem Häuschen“, und beglückwünschte die Dame persönlich. Er ging gar nicht in sein Häuschen zurück, denn es folgte unmittelbar danach der Liegeradfahrer Bernd Gückel aus Porta Westfalica, mit dem wir uns am Vorabend noch unterhalten hatten. Er schilderte uns seine Not am Berg, wenn der Tacho auch mal einstellige Geschwindigkeiten anzeigte, aber dafür machte ihm Gegenwind nichts aus. Und hier rollte er ganz entspannt nach 15:36 h Fahrt ins Ziel. Was soll man da noch sagen? Einfach nur: Nichts ist unmöglich!

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Geschafft!

Helge und Hendrik schildern ihre Erlebnisse lieber selbst. Für uns alle ging der Tag mit einem Essen beim Chinesen zu Ende. Danach kam die Müdigkeit mit einer solchen Wucht, dass auch das DFB-Pokalfinale nicht mehr interessierte.

Die Tour war auf jeden Fall unter diesen Bedingungen eine grenzwertige Erfahrung. Wir wollen sie irgendwann nochmal machen, dann aber bei Tageslicht und bitte bei schönem Wetter, um die herrliche Landschaft auch genießen zu können. Die MSR hat ein großes Potential, ein genau solcher Mythos zu werden wie die Vätternrunde. Ich prognostiziere spätestens in fünf Jahren auch Teilnehmerzahlen jenseits der 10 000. Hier werden Radsport-Geschichten geschrieben, die haften bleiben, vielleicht so wie diese hier.

Strecke mit Höhenprofil: http://www.gpsies.com

MSR-Homepage: http://www.mecklenburger-seen-runde.de

Bericht: Dieter Ullrich

Bilder: Hendrik Hultsch

01.06.2015

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